Homo futurus

Zukunftsmensch und Persönlichkeit

 

Ich-Erleben

Die technische Gestaltungskompetenz des Zukunftsmenschen könnte mit einem veränderten geistig-psychischen Selbstverständnis einhergehen. Universelle Eigenschaften wie sexuelle Liebe, Bindung, Schuld/Scham oder die Gewissheit, eine unverwechselbare, überdauernde Identität zu haben, verliert wahrscheinlich ihr alte Eindeutigkeit, vermutlich gar die Wünschbarkeit. Es fragt sich, ob die Entkernung der Persönlichkeit eine Voraussetzung 'gesunden' Funktionierens des künftigen Menschen ist?

 

Identitätsbildung

Das Individuum erlebt sich normalerweise als einmalige, unverwechselbare Persönlichkeit mit einem Kern-Selbst. Dieses strukturiert sich durch Eigenschaften der Selbstvertrautheit, des Selbstmittelpunktes und der Selbstzugehörigkeit.

 

  • Das erlebte, bewusste "Ich bin" konstruiert sich zeitlebens auf dem Boden der Gene und der das Individuum prägenden Gesamtumstände. Das Individuum repräsentiert sich dabei ein zeitübergreifendes, einheitliches Selbst.

 

Während psychischer Ausnahmesituationen wird dessen drohender Zerfall durch Wiederherstellung des einheitlichen Selbst abgewehrt. Diese Selbstreparatur ist unabdingbar für die Gewissheit, dass "Ich bin".

Notlagen zwingen den Einzelnen unter Umständen zur Herausbildung verschiedener Ich, um mittels mehrfacher Persönlichkeitsanteile noch funktionieren zu können.

 

Multiples Ich-Erleben

Die Möglichkeit des multiplen Ich-Erlebens scheint dem Individuum gegeben zu sein. Ob anlage- und/oder biografisch bedingt, besteht wohl ein Kontinuum zwischen Ich-Einheit und multiplen Identitäten.

Werden multiple Identitäten in das sich immerzu wiederherstellende Selbst integriert, erlebt sich das Individuum einheitlich.

 

Sind Situationen denkbar, bei denen ein kohärentes, zeitlich stabiles Ich-Gefühl (Mono-Ich-Erleben) nachteilig wird, beispielsweise in Zeiten fundamentaler biologischer und/oder technologischer Veränderungen?

 

  • In wenigen Jahrzehnten setzen moderne Gesellschaften auf genetische Selbstveränderung, künstliche Reproduktion und verselbständigter, künstlicher Intelligenz. Menschen mit einer diesen 'Zeitumständen' angepassten psychischen Ausstattung vermögen die technische und kulturelle Entwicklung vielleicht besser voranzutreiben bzw. zu ertragen.

 

Mehrere Identitäten

Individuen mit integrierten, multiplen Identitäten, welche als zum Ich gehörend bejaht werden, dürften den Anforderungen der Zukunft am ehesten genügen. Gefordert ist der plastische Mensch, welcher das Selbstmodell zu erweitern vermag. Er muss das, was als Ich-Bewusstsein bezeichnet wird, stetig neu und multivariat konstruieren und im Netzwerk mehrerer Ich miteinander verknüpfen.

 

  • Künftige Menschen brauchen vielleicht kein erlebtes oder bewusstes Kern-Selbst mehr. Der Neue Mensch ändert ja laufend seine äussere Gestalt. Zudem lassen ihn gentechnische und weitere medizintechnische Eingriffe zeitlebens unfertig und konstruiert erscheinen.
  • Stete Umwandlung erfordert aber eine 'Persönlichkeit im Fluss', welche die permanente äussere Selbstmodifikation internalisiert und erträgt.

 

Die bio-psychischen Entstehungs- wie Sozialisationsbedingungen des Homo futurus erfordern den psychisch unfertigen, vorläufigen Menschen.

Das Bedürfnis nach individuell-eindeutiger Verortung in einem Familiensystem oder die Selbstwahrnehmung, über die Zeit hinweg bei aller Selbstveränderung immer dieselbe Person geblieben zu sein, ist mit den Ergebnissen und Erfordernissen des künftigen technologischen Umbruchs nicht mehr kompatibel.

 

Geschlechter-Sexualität

Angesichts der gentechnischen Menschenmodellierung und künstlichen Reproduktion wird die Geschlechter-Sexualität überflüssig. Sexualität zwischen den Geschlechtern gilt alsdann bloss noch als Rudiment der menschlichen Stammesgeschichte. Eindeutige und endgültige Geschlechteridentität löst sich auf.

 

Bindungs- und Beziehungsfähigkeit

Bindungs- und Beziehungsfähigkeit ertragen sich schlecht mit künstlicher Reproduktion, Gendesign und verselbständigter, künstlicher Intelligenz. Die Zukunft bevorteilt Bindungs- und Beziehungsabstinente. Nur sie leben unter laufend neuen Bedingungen 'gesund'. Bindung und Intimität werden übrigens heute schon zunehmend wie Relikte einstigen nativen Verhaltens in ritualisierter Form öffentlich zelebriert und vom Individuum bloss noch partizipativ befriedigt.